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«Kinder sollen lernen, sich selbst zu beschäftigen und nicht nur die Erfahrung machen, ‹ich werde immer unterhalten›»

02.02.17

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Der Medienpädagoge Thomas Merz über das iPhone-Syndrom bei Kleinkindern, Facebook für Primarschüler und wieviel Medienkonsum in welchem Alter bei Kindern empfehlenswert ist.
Redaktion/Interview: Text- und Übersetzungsagentur etextera

Herr Merz, bereits Einjährige haben die Wisch-Bewegung auf Smartphones raus, Dreijährige malen auf Tablets. Wie sehen Sie das als Medienpädagoge: Gehört dies im 21. Jahrhundert dazu, oder müssen wir uns um die Kinder sorgen?

Für kleine Kinder ist es von zentraler Bedeutung, dass sie Erfahrungen mit der physischen Umwelt machen und ihr Weltbild darauf aufbauen können. Dass sie Dinge in die Hand nehmen, ertasten, fallen lassen oder verformen können. Auf dem Smartphone hingegen sehen sie nur Abbilder, alles ist gleich flach. Reaktionen sind nicht durch Naturgesetze, sondern durch die Programmierung bestimmt. Erfahrungen sammeln durch Ertasten ist hier nicht möglich. In dieser frühen Phase wäre ich deshalb bei Kindern mit Smartphones, Tablets und Co. sehr zurückhaltend. Zwar würde ich es nicht dramatisieren, wenn Kinder nur hin und wieder solche Medien nutzen – als Ausnahme. Aber fördern würde ich es sicher nicht.

US-Psychologen warnen bereits vor dem iPhone-Syndrom. Dieses entstehe, wenn Eltern ihren gelangweilten Kindern das Smartphone zusteckten, damit sie ruhig sind.

Dies halte ich für eine bedenkliche Entwicklung. Kinder sollen lernen, sich selbst zu beschäftigen und nicht nur die Erfahrung machen, «ich werde immer unterhalten». Was sie dabei nämlich nicht lernen, ist geduldig zu sein oder gar ihre Langeweile aus eigenen Stücken zu bewältigen. Zum Leben und zum kreativ sein gehört aber das Überwinden von Durststrecken.

Ab welchem Alter ist es Ihrer Meinung nach nicht mehr so heikel, Kinder mit Smartphones oder Tablets hantieren zu lassen?

Bis zum Kindergartenalter wäre ich damit sehr zurückhaltend; am Anfang der Primarschulzeit ebenfalls noch. Mit zunehmendem Alter ist eine vielfältige Mediennutzung o.k. Generell darf die Medienerfahrung nur nicht die realen Grunderfahrungen ersetzen, das ist das Wichtigste. Ausserdem gilt: Erhalten Kinder in ihrem Alltag vielfältige Anregungen, sind sie im realen Leben gut verankert, steht jede Mediennutzung auf einem ganz andern Fundament. Neulich erzählte mir ein Bekannter, dass er mit seinem Enkelkind immer Spiele auf dem iPad spielt. Meine Antwort daraufhin war: «Ich vermute, das Wertvollste für deinen Enkel ist es, beim Grossvater auf den Knien zu sitzen – und nicht das Spiel selbst.»

«Facebook gehört heute dazu»

Wie stehen Sie zu Sozialen Netzwerken, wie etwa Facebook?

Facebook bietet, wie andere Soziale Netzwerke, viele Möglichkeiten. Entscheidend ist der richtige Umgang.

Und ab welchem Alter können Kinder damit richtig umgehen? Mittlerweile sind schon ganze Primarschulklassen dort vertreten.

Das ist ein schwieriges Thema. Facebook selbst setzt die Grenze bei 13 Jahren. Richtig empfehlen kann man es deshalb vorher nicht. Für die Schweiz würde ich für jüngere Kinder sowieso immer zu zambo.ch raten. Der offizielle Webauftritt des Kinderprogramms von Schweizer Radio und Fernsehen verfügt über eine eigene Community, bei der Kinder zwischen sechs und 14 Jahren mit dem Einverständnis der Eltern kostenlos Mitglied werden können. Das Gute daran: Die Mitglieder sind geprüft und registriert. In einem geschützten Umfeld können Kinder hier also erste Erfahrungen mit einem Sozialen Netzwerk machen.

Wie sieht es bei älteren Kindern aus?

Facebook gehört heute in der Regel dazu, mit allen Chancen und Risiken. Habe ich vielfältige soziale Erfahrungen gemacht, Freundschaften geschlossen, gepflegt, gestritten und mich wieder versöhnt, sind dies wichtige Erfahrungen, die auch für die Pflege von Freundschaften auf Sozialen Nerzwerken zentrale Basis sind.

Beim Medienkonsum setzen Eltern ihren Kindern oft zu spät Grenzen

Sie sind selbst Vater von drei jugendlichen Töchtern. Haben Sie schon mal deren Facebook-Profile kontrolliert?

Nein, aber wir sprechen regelmässig darüber, wie wir Facebook nutzen – ich bin dort ja auch aktiv. Und damit bin ich beim Kernpunkt: Je älter Kinder werden, umso wichtiger ist es, dass man sich mit den Medien auseinandersetzt, über die Nutzung nachdenkt und spricht – und zwar zusammen mit den Kindern. Eltern und Schule müssen sie unterstützend begleiten. Denn Medien sind für die Lebenswelt von heute von grosser Bedeutung. Wichtig aber ist, schrittweise einen kompetenten Umgang mit den Medien zu erlernen.

Ist es da sinnvoll, wenn Eltern ihren Kindern bei der Mediennutzung zeitliche Limits setzen?

Eine Grundschwierigkeit von Medien ist: Nutzen wir sie, liefert uns dies anstrengungslos tolle Erfahrungen – was einerseits schön ist. Doch schalten wir Unterhaltungsmedien aus, bleibt in der Regel nichts mehr, worauf man stolz sein kann. Stelle ich als Eltern also Medien immer zur freien Verfügung, gebe ich Kindern auf Dauer nicht die Erfahrung, die sie wirklich brauchen. Von daher machen Zeitlimits schon Sinn, vor allem bei jüngeren Kindern. Oft setzen Eltern aber Grenzen erst, wenn Jugendliche im Medienkonsum über die Stränge schlagen. Besser wäre es, bereits bei den Kleinen damit zu beginnen und dort die Grenzen relativ eng zu stecken, sodass man zunehmend mehr Freiheiten gewähren kann, wenn sie sich an die Abmachungen halten.

Wieviel Medienkonsum ist denn nun o.k.? Können Sie uns konkrete Zahlen nennen?

Als Orientierungshilfe würde ich sagen: Im Kindergartenalter nicht mehr als eine halbe Stunde Medienerfahrung pro Tag – dies jedoch nicht täglich. In der Unterstufe dann eine Stunde pro Tag, in der Mittelstufe eineinhalb und in der Sekundarstufe zwei bis zweieinhalb Stunden pro Tag. Natürlich ist das auch immer von der Situation abhängig. Ist ein Kind mit Medien kreativ tätig, stellt es zum Beispiel einen Film zusammen, gehört dies nicht zu Unterhaltungskonsum.

Die eigene Mediennutzung überdenken

Was halten Sie von Kindersicherungen?

Kindersicherungen sind nach meiner Einschätzung für Eltern, die bereit sind, viel Zeit dafür zu investieren, denn sie müssen sich permanent auf dem Laufenden halten. Sind die Einschränkungen zu eng, können die Kinder die Möglichkeiten gar nicht nutzen; sind sie zu grosszügig gesteckt, nützen sie nichts. Wichtiger ist es meines Erachtens, als Eltern Interesse zu zeigen, mit den Kindern darüber zu reden. Etwa zu fragen: Was schätzt du an Facebook? Wo erlebst du etwas, was dich belastet? Wie gelingt es dir, deine eigenen Zeitlimits einzuhalten? Wo entdeckst du Risiken? Es macht auch Sinn, beim Einstieg ins Internet mit den Kindern Vereinbarungen zu treffen, was sie ins Netz stellen dürfen und was nicht.

Einerseits haben Eltern oft Angst, dass ihr Kind im Netz zu freigiebig mit seinen Daten umgeht. Andrerseits posten viele Eltern selbst sehr offenherzig – Babyfotos zum Beispiel.

Eltern sollten sich schon überlegen, wie häufig sie Medien nutzen und wieviel sie dort von sich oder ihren Kindern preisgeben. Haben Eltern zum Beispiel bei Facebook selbst kein Profilfoto veröffentlicht, publizieren dort aber alles von ihren Kindern, ist das schon fragwürdig. Beim Veröffentlichen von Kinderfotos sollte man generell sehr zurückhaltend sein und sicher keine zeigen, die andere nur lustig finden. Ausserdem sollte man sich dabei immer die Frage stellen: Wenn mein Kind im Alter von 15 bis 20 Jahren diese Fotos im Netz entdeckt, hat es dann Freude daran oder nicht? Auch die Frage «Wie gehe ich selbst mit Medien um?» sollten sich Eltern ab und zu stellen. Bin ich etwa immer nur mit halber Aufmerksamkeit im Gespräch mit meinen Kindern und mit halber Aufmerksamkeit im Social Network? Entscheidend ist dabei vor allem, dass wirklich ein Austausch zwischen Eltern und Kindern stattfindet.
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