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«Der Begriff ‹gewaltfrei› wirft Fragen auf.»

05.05.18

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Weshalb Gewaltfreie Kommunikation (GFK) nicht bedeutet, dass man zu allen immer nur nett sein muss, weiss Vera Heim*. Im Interview erklärt die zertifizierte GFK-Trainerin, warum Reflektieren und Auf-sein-Gegenüber-Eingehen heute wichtiger ist denn je.


Redaktion/Interview: Textagentur etextera

Frau Heim, wenn man den Begriff «Gewaltfreie Kommunikation» hört, ist der erste Impuls wohl: «Klar machen wir das, wir schlagen uns ja nicht.» Doch was steckt wirklich dahinter?

Der Begriff «gewaltfrei» wirft tatsächlich Fragen auf. Gleichzeitig kennen wohl die meisten das flaue Gefühl im Magen, das entsteht, wenn wir mit Vorwürfen oder Angriffen konfrontiert werden. Dann kann es passieren, dass wir sprachlos sind, uns schweigend zurückziehen oder zum Gegenangriff ansetzen. Dies sind Anzeichen für Gewalt in der Sprache. Ich verstehe darunter alles, was Menschen in der Kommunikation voneinander trennt. Wenn wir zum Beispiel Angst haben, nicht zu bekommen, was wir wollen, dann versuchen wir möglicherweise, mit sprachlichen Dominanzstrategien Kooperation zu erzwingen. Das löst aber oft grossen Widerstand aus.

An was für Situationen denken Sie dabei im Berufsalltag?

Etwa an Formulierungen wie «Du machst das, sonst ...» oder «Wenn du das nicht machst, dann ...». Gewalt in der Sprache kommt auf allen Ebenen vor: von Kollege zu Kollege, vom Vorgesetzten zu Mitarbeitenden, von Kunden zu Auftragnehmern und umgekehrt. Kurz: immer dann, wenn die Augenhöhe verloren geht und Bedürfnisse auf Kosten des Gegenübers erfüllt werden wollen.

Wie sieht gewaltfreie Kommunikation im Idealfall aus?

Im Idealfall gelingt es uns, im Gespräch die Verbindung aufrechtzuerhalten. Wenn wir formulieren können, was uns wichtig ist, und gleichzeitig offen bleiben für die Ansichten des Gegenübers, sind wir auf einem guten Weg. Es geht darum, zu schauen, was beide Seiten brauchen, und so eine Lösung zu finden. Freiwilligkeit ist dabei ganz wichtig. Denn wer etwas freiwillig macht, tut dies in der Regel gerne. Die Frage lautet also: Wie gelingt es mir, dem anderen einen Sinn zu zeigen, weshalb er etwas für mich tun soll?

Den anderen verstehen heisst lediglich, die Welt mit seinen Augen zu sehen

Ist das im Berufsalltag nicht sehr anstrengend?

Viele meinen, gewaltfreie Kommunikation bedeute, zu anderen immer nur nett sein oder alles zerreden zu müssen. Oder sie glauben, den anderen zu verstehen, sei gleichbedeutend damit, dessen Ansichten zu übernehmen. Doch das entspricht nicht meiner Erfahrung! Den anderen verstehen heisst lediglich, die Welt mit seinen Augen zu sehen. Um dann zu schauen: Wie finden wir eine Lösung, die für uns beide stimmt?

Ist GFK im Job weit verbreitet, oder herrscht eher Nachholbedarf?

Ich bin seit 15 Jahren in diesem Thema unterwegs und stelle fest: In den letzten Jahren hat es eindeutig an Bedeutung und Akzeptanz gewonnen. Insbesondere im sozialen Bereich ist man sehr sensibel für gewaltfreie Kommunikation. In der Wirtschaft hingegen gibt es noch einigen Nachholbedarf. Dabei wäre sie dort wichtiger denn je.

Weshalb?

Gerade heute, da es überall um agiles Projektmanagement geht und Hierarchien wegfallen, fehlt es an Orientierung und Struktur für Mitarbeitende. Die Menschen müssen sich deshalb neu orientieren – was am besten über Beziehungen gelingt und somit über die Kommunikation.

Kommunikation ist also so wichtig wie nie zuvor?

Genau. Die Fähigkeit, sich selbst zu reflektieren, offen Dinge anzusprechen und gleichzeitig auf sein Gegenüber einzugehen, ist wichtiger denn je. Für mich liegt dort ein riesiges Potenzial, um selbstverantwortliches Handeln und ein wertschätzendes Miteinander zu fördern. So lassen sich die Herausforderungen im Berufsalltag einfacher meistern.


Zur Person
*Vera Heim ist Geschäftsführerin von The Coaching Company, sowie zertifizierte GFK-Trainerin CNVC.

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