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«Wir tendieren dazu, Bücher nicht zu Ende zu lesen»

19.02.16

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Quer lesen, scannen, gedanklich abschweifen: Was das Internet mit unseren Lesegewohnheiten macht, erzählt Rudolf Mumenthaler, Bibliothekswissenschaftler und Professor an der HTW Chur.
Redaktion/Interview: Textagentur etextera, Kristina Reiss

Herr Mumenthaler, viele klagen, sie könnten sich nicht mehr auf ein gutes Buch konzentrieren. Wir scannen nur noch, lesen automatisch quer, schweifen in Gedanken ab, weil wir den Hyperlink vermissen zu Bildern, Tönen und anderen Texten. Ist es tatsächlich schwieriger geworden, sich auf längere Lektüren einzulassen?
Die heutige Medienvielfalt und unser Informationsnutzungsverhalten tragen sicher nicht dazu bei, unsere Konzentration auf eine Sache zu stärken. So fand Amazon mittels Kindle-App heraus, dass Sachbücher oft nicht zu Ende gelesen werden. Daraufhin entwickelte das Unternehmen ein neues Format: Die Kindle Singles, eine Sachbuchreihe kürzerer Texte, die dem von Ihnen beschriebenen Verhalten der Kunden angepasst ist.

Verlernen wir es, uns in Themen zu vertiefen?
Was die Belletristik angeht nicht, dort dürfte das Leseverhalten noch unverändert sein. Denn in unterhaltende Bücher lassen wir uns eher hinein ziehen. Bei Sachbüchern hingegen, wo es um die reine Aufnahme von Informationen geht, wird es zunehmend schwieriger, sich zu fokussieren. Aber das ist ein generelles Problem, das sich heute immer zeigt, wenn unsere volle Aufmerksamkeit gefragt ist: Wir überfordern uns mit Multitasking und lassen uns durch Mails und Kurznachrichten am PC oder Smartphone ablenken. Einerseits tendieren wir also dazu, früher von Büchern abzuspringen und sie nicht zu Ende zu lesen. Andererseits bieten elektronische Medien aber auch die Chance, gerade junge Leute zum Lesen zu bewegen.

Beim Lernen greifen Studierende lieber zu Gedrucktem

Wie meinen Sie das?
Werden Texte multimedial aufbereitet und angereichert, etwa mit interaktiven Grafiken, können neue Medien einen grossen Effekt haben. Dies gilt vor allem bei Lehrmitteln. Wichtig ist aber auch, dass wir lernen, mit diesen neuen Medien zu arbeiten.

Tragen E-Reader ebenfalls dazu bei, dass sich Lesegewohnheiten verändern?
Aus Studien geht dies bisher nicht hervor. Was sich aber sagen lässt: Beim Lernen greifen Studierende lieber zu Gedrucktem als zu digital aufbereiteten Texten – sie wollen reinschreiben können, Anmerkungen machen. Das kann man zwar auch mit elektronischen Medien, muss aber die dafür nötigen Tools kennen und konsequent einsetzen. Für Belletristik hingegen werden E-Reader oder Tablets gerne genutzt; gerade zum Lesen unterwegs sind sie sehr praktisch. Allerdings ist es eher das Medium der Generation Lesebrille: Ältere schätzen es, dass sie hier die Schrift vergrössern können. Für Junge hingegen sind E-Reader keine coolen Gadgets und Tablets zu teuer. Sie lesen Romane eher auf dem Handy. Am meisten aber jede Menge Kurzfutter: News, WhatsApp-Nachrichten und dergleichen.

Sind die neuen Medien also eine Gefahr für unsere Lesegewohnheiten?
Diese Diskussion gibt es immer, wenn ein neues Medium auftaucht. In den Anfangsjahren des Radios war es nicht anders. Ich würde sagen: Manche Kompetenzen verliert man – wie etwa die Konzentration auf längere Texte. Andere kommen neu hinzu. Heute können wir uns zum Beispiel problemlos kurz fassen und in 140 Zeichen ausdrücken – das war früher so nicht möglich. Ausserdem schreiben wir vermehrt in Schweizerdeutsch, weil es schneller geht. Bei uns in der Familie bin ich zum Beispiel der einzige, der seine SMS noch in Hochdeutsch tippt.

Hybrid funktionierende Bibliotheken

Was bedeutet diese Entwicklung für Bibliotheken?
Momentan sind Bibliotheken hybrid und funktionieren sowohl analog als auch digital. Wir gehen davon aus, dass beides nebeneinander möglich ist. Allerdings verändert sich durch die neuen Medien und Nutzungsformen auch die Funktion des Raums. Bibliotheken haben dies erkannt und entwickeln neue Dienstleistungen. So verleihen die meisten öffentlichen Bibliotheken heute auch E-Books. In Hochschulbibliotheken wiederum dominieren klar elektronische Medien. Wissenschaftliche Zeitschriften gibt es zu 95 Prozent elektronisch. Schwerer als Bibliotheken haben es da Buchhandlungen.

Weil niemand mehr Bücher kauft?
Weil niemand mehr bei der Buchhandlung um die Ecke kauft, sondern im Internet bestellt. Wir müssten alle dringend unser Konsumverhalten ändern, um das Verschwinden dieser Läden zu verhindern – aber nur aus Sympathie tun das wenige.

Zur Person
*Nach dem Studium der Geschichtswissenschaft und anschliessender Promotion an der Universität Zürich arbeitete Rudolf Mumenthaler erst als Leiter der Spezialsammlungen an der ETH-Bibliothek in Zürich, bevor er dort die Leitung des Marketings und des Innovationsmanagements übernahm. 2012 erfolgte die Berufung als Professor für Bibliothekswissenschaft an der Hochschule für Technik und Wirtschaft Chur. Mumenthaler ist unter anderem Mitglied im wissenschaftlichen Beirat der ZB MED, im Vorstand von Bibliothek Information Schweiz und Mitherausgeber der Zeitschrift Informationspraxis.

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