«Frauen wird vorgegaukelt, es sei keine grosse Sache, zu arbeiten und nebenher noch Kinder aufzuziehen»
Redaktion/Interview: Text- und Übersetzungsagentur etextera
Frau Stillhart, Ihr Buch trägt den Titel «Müde Mütter – fitte Väter». Was hat es mit den erschöpften Frauen auf sich?
Bekam eine Frau vor 20 Jahren Kinder, legte sie für ein paar Jahre eine Mutterschaftspause ein und kehrte erst dann wieder zurück in den Beruf. Heute arbeiten Frauen trotz Kinder fast nahtlos weiter – weil sie es wollen und immer besser ausgebildet sind, aber auch weil es ihnen nahegelegt wird. Die Anforderungen an Frauen sind heute also sehr viel höher. Gleichzeitig – und das ist das Zermürbende – haben sich die Strukturen nicht wirklich verändert: Der Arbeitsweg ist zum Teil lang, Krippen sind teuer und das Schulsystem ist mit 13 Wochen Ferien im Jahr nicht kompatibel mit dem Ferienpensum der Eltern – welches lediglich vier bis fünf Wochen umfasst.
Aber es gibt doch die neuen Väter! Sie wickeln und füttern ihre Kinder, arbeiten Teilzeit und legen Vatertage ein.
Das stimmt. Väter kümmern sich heute sehr viel mehr um ihre Kinder als es ihre eigenen Väter getan haben. Allerdings definieren sich die meisten trotzdem noch über Arbeit und Gehalt. Ruft der Chef, springen sie schneller, als ihr Nachwuchs den Brei geschluckt hat. Auch hier sind das Hauptproblem die Strukturen: Es bräuchte endlich mehr Teilzeitstellen – auch für Väter, auch in hoch qualifizierten Jobs mit Führungsverantwortung. Zudem stecken wir immer noch in alten Rollenbildern fest: Männer müssen arbeiten, Frauen dürfen arbeiten und gelten lediglich als Zuverdienerinnen.
Die meisten Paare wünschen sich heute eine partnerschaftliche Arbeitsteilung – sowohl was die Erwerbsarbeit angeht, als auch die Familienarbeit. Doch sobald das erste Kind da ist – so zeigen Studien – fallen die meisten in die klassische Rollenteilung zurück.
In der Theorie kann man eben viel beschliessen, die Praxis sieht dann ganz anders aus. Die meisten jungen Frauen machen sich heute nicht wirklich Gedanken über die Vereinbarkeit, weil ihnen medial vorgegaukelt wird, dass es keine grosse Sache sei, zu arbeiten und nebenher noch Kinder aufzuziehen. Erst wenn sie vor Erschöpfung abends in der Waschküche einschlafen, weil sie 50 Prozent im Büro arbeiten und 100 Prozent im Haushalt, realisieren sie, dass alles eine grosse Lüge ist.
Keine Frau sagt: «Ich schaff das bald nicht mehr» – obwohl es vielen so geht
Trotzdem hört man wenig von chronisch gestressten, arbeitenden Müttern.
Das ist tatsächlich interessant. Fast keine Frau sagt: «Ich schaff das bald nicht mehr.» Obwohl es vielen so geht. Ich vermute, die Betroffenen vermeiden dies auszusprechen, um nicht jenen konservativen Stimmen Recht zu geben, die dann triumphieren könnten: «Wir haben es ja schon immer gesagt, bleibt halt daheim.» Ausserdem sind viele berufstätige Mütter derart motiviert, dass sie es unbedingt irgendwie schaffen wollen. Obwohl die Last riesig ist. Was jedoch das Burnout-Risiko bei berufstätigen Müttern steigen lässt. Solche Fälle nehmen zu.
Sie selbst haben Ihren Job gekündigt, weil Ihnen die Doppelbelastung zu viel wurde. Nun arbeiten Sie freischaffend. Haben Sie kapituliert?
Ja, ich sehe es schon als Kapitulation. Ich konnte einfach nicht mehr, die Belastung war zu gross. Jetzt, wo ich meine eigene Chefin bin, mir meinen Arbeitstag besser einteilen kann, ist es viel leichter, Familie und Beruf unter einen Hut zu bekommen. Aber ich verdiene natürlich auch deutlich weniger. Das Verrückte ist: Wir haben trotzdem nicht weniger Geld am Ende des Monats zur Verfügung. Denn zum einen zahle ich nun sehr viel weniger Steuern, zum anderen sind die Kita-Kosten gesunken, weil wir nicht mehr zwei gut Verdienende sind.
Warum bleibt Ihr Mann nicht zu Hause?
Wegen dem Gehalt – ganz klassisch. Männer verdienen immer noch mehr als Frauen, machen immer noch schneller Karriere. Da gibt es nichts zu diskutieren. Arbeiten beide Elternteile hingegen 50 Prozent, muss man in Kauf nehmen, dass weder Mann noch Frau Karriere machen. Das wollen viele schon aus finanziellen Gründen nicht riskieren. Wir leben leider in einer auf Männer ausgerichteten Arbeitswelt: Muttersein ist für Frauen ein Karrierehindernis, ein Vater hingegen wird eher noch befördert.
Viele der 100 Prozent-Jobs liessen sich auch in 70 Prozent der Zeit erledigen
Liegt es vielleicht auch in der Verantwortung der Frauen, ihre Männer mehr einzuspannen, Arbeiten zu delegieren und ihnen Kinder und Haushalt zuzutrauen?
Dieser Punkt wird zwar oft genannt aber führt am eigentlichen Problem vorbei. Ich jedenfalls gebe sehr gerne ab. Und die meisten anderen Frauen ebenfalls.
Was muss sich also konkret ändern?
Wir brauchen mehr Gelegenheiten, um flexibler arbeiten zu können, wie etwa im Home-Office. Ein Ferienkonto wäre gut, damit Eltern die unendlich vielen Schulferien auffangen können. Wir brauchen eine bessere Qualität der Krippenplätze, besser ausgebildetes aber auch bezahltes Personal und vor allem günstigere Plätze. Bei berufstätigen Müttern mit zwei Kindern geht heute fast das ganze Geld für Kitagebühren drauf. Auch die Steuern müssten gesenkt werden, damit sich Arbeiten für Mütter lohnt. Heute zahlen wir sogar drauf, nur um weiter im Job zu bleiben. Vor allem aber sollten wir dringend eine Diskussion über Arbeitszeiten führen – schliesslich haben wir in der Schweiz eine der höchsten. Ist denn ein Arbeitstag von 8,5 Stunden wirklich sinnvoll? Wer kann so lange effizient arbeiten? Und, seien wir doch mal ehrlich: Viele der 100 Prozent-Jobs liessen sich auch in 70 Prozent der Zeit erledigen.
Warum setzen sich Frauen nicht mehr für diese Anliegen ein, etwa auf politischer Ebene?
Es gibt vereinzelte Stimmen, aber insgesamt viel zu wenige. Vielleicht, weil immer noch die älteren Männer die politische Agenda beherrschen. Medial ist es ganz ähnlich. Hinzu kommt: Wenn schon Frauen untereinander kaum darüber reden, wie soll dann die Aussenwelt wissen, dass es Thema ist? Ausserdem schauen wir zu wenig über den Tellerrand: Viele halten 14 Wochen Mutterschaftsurlaub für eine tolle Errungenschaft ohne zu merken, wie es in anderen Ländern funktioniert, wie etwa Skandinavien. Dann würden wir nämlich erkennen: Was die Vereinbarung von Familie und Beruf angeht, ist die Schweiz ein Entwicklungsland.
Zur Person
*Sibylle Stillhart ist ausgebildete Journalistin. Sie hat die Ringier Journalistenschule absolviert, als Redaktorin bei «Facts» und «Beobachter» gearbeitet und als freie Journalistin für diverse Zeitschriften und Zeitungen geschrieben. Anschliessend war sie Pressesprecherin für die Eidgenössische Bundesverwaltung. Heute arbeitet Sibylle Stillhart vor allem als freie Journalistin und für ihre drei Söhne. 2015 erschien ihr Buch: «Müde Mütter – fitte Väter. Warum Frauen immer mehr arbeiten und es trotzdem nirgendwohin bringen», Limmat-Verlag, CHF 23,90.
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