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«Es wirkt immer zu niedlich, wenn Heidi Klum demonstrativ in einen Döner beisst»

19.03.15

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Die deutsche Frauenrechtsorganisation Pinkstinks sorgt mit kreativen Protestaktionen gegen die Casting-Show Germanys Next Topmodel für Furore. Gründerin Stevie Meriel Schmiedel* über diäthaltende 10-Jährige, sexistische Werbung und die einflussreiche Facebook-Community.


Redaktion/Interview: Text- und Übersetzungsagentur etextera

Frau Schmiedel, wie ist Ihr Kontakt zu Pro 7 – nachdem Pinkstinks dem Sender während der Ausstrahlung von Germanys Next Topmodel (GNTM) mit Strassentheater, Demos und Öffentlichkeitsarbeit ganz schön einheizt?

Sie nehmen uns zumindest wahr. Eine ernste Auseinandersetzung hatten wir aber noch keine, suchen das auch nicht. Wir wissen um ihre Ziele, sie um unsere – das genügt. Trotzdem musste Pro 7 im letzten Jahr auf ihrer Pressekonferenz mehr über Pinkstinks reden als Heidi Klum über ihre Finalistinnen. Böse Zungen behaupten sogar, Pinkstinks sei der einzige Grund, der GNTM noch am Leben erhalte – was ich übertrieben finde. Immerhin: Klum und Co. versuchen nun ständig vor der Kamera zu essen. Das wirkt immer zu niedlich, wenn Wolfgang Joop seine Donauwellen rein schiebt oder Heidi demonstrativ in einen Döner beisst.

Während Heidi Klum derzeit zum zehnten Mal wieder das angeblich schönste Mädchen Deutschlands sucht, ist Ihre Theaterpädagogin an deutschen Schulen unterwegs, um Kinder gegen die Auswirkungen der Casting-Sendung stark zu machen. Was sind Ihre Erfahrungen damit?

Es ist spannend! Wir spielen das Stück, in dem es um Schönheitsdruck und Essstörungen geht, ja vor Jungen und Mädchen. Beim ersten Mal sprang ein Junge auf und rief: «So ein Mist! Warum müssen wir uns das anschauen? Das ist doch nur was für Mädchen!» Worauf ein Mädchen rief: «Nein, es ist gut, dass ihr euch das mal anschauen müsst! Wegen euch versuchen wir schliesslich möglichst dünn zu sein!» Daraufhin ein anderer Junge: «Das ist doch Quatsch. So dünne Mädchen finden wir ja gar nicht schön!» Szenen wie diese erleben wir oft.

Ein Theaterprojekt als Anstoss also, dass Mädchen und Jungen über Schönheitsideale nachdenken?

Genau. Das Stück spricht nämlich beide Geschlechter an. Oft sind es sogar die Jungen, die sich zuerst melden, und berichten, dass sie sich zunehmend unter Druck fühlen einen muskulösen Körper haben zu müssen – Sixpack, breite Schultern. Mädchen wiederum erzählen, wie schlecht sie sich fühlen, wenn an der Bushaltestelle das neue H&M-Plakat hängt und die Jungs vom abgebildeten extrem schlanken Model ganz begeistert sind. Auch bei GNTM passen alle Kandidatinnen natürlich ganz selbstverständlich in Grösse 32 bis 34. Da wirkt unser Theaterstück wie ein Befreiungsschlag für die Kinder. Wir erhalten auch viele rührende Dankesemails.

Schon in der zweiten Klasse üben sie auf dem Schulhof die Topmodel-Walks

Wer ist Ihre Zielgruppe?

Bisher spielen wir nur an Hamburger Schulen, im Juni aber gehen wir deutschlandweit auf Tournee. Generell ist das Stück «Vielfalt ist Schönheit» für Jugendliche ab der 7. Klasse konzipiert. Doch wir bekommen zunehmend Anfragen von niedrigeren Klassenstufen. Weil im Stück aber auch Essstörungen angesprochen werden, ist es inhaltlich schon hart. Wir verteilen auch Informationen zu lokalen Essstörungsberatungszentren. Für ein jüngeres Publikum müsste man es deshalb umarbeiten. Doch Schönheitszwang und Magerwahn sind bei Jüngeren natürlich auch schon ein Thema. Meine Tochter ist in der 5. Klasse, da gucken alle Topmodel. Schon in der zweiten und dritten Klasse üben sie auf dem Schulhof die Topmodel-Walks. Immer mehr 10- und 12-Jährige hungern sich in Topmodel-Grössen. Jedes dritte Mädchen hierzulande hat ein schlechtes Gewissen, wenn es isst. Und jedes fünfte Kind zeigt Symptome einer Essstörung.

Eigentlich sollte Ihre Theaterpädagogin zum Start von GNTM ja von Litfasssäulen in ganz Deutschland strahlen.

Das war unser Plan, ja. Aber als wir Wall-Decaux anriefen, um Litfasssäulen zu buchen, schalteten diese auf stur. Mitbewerber Ströer beantwortete unsere Anfrage nicht einmal. Im Prinzip war dies aber klar. Die beiden Firmen haben in Deutschland das Werbemonopol. Für Alternativwerbung gibt es da keinen Platz – diese Erfahrung mussten auch schon andere NGOs machen. Topmodel Heidi und Theaterpädagogin Blanca in einer Woche auf den Werbeflächen – das geht offensichtlich nicht. So haben wir uns eben für Poster auf klassischen Klebeflächen in Berlin entschieden.

Mädchen werten sich gegenseitig extrem ab

Wie kam es zur Gründung von Pinkstinks?

Ich bin ursprünglich Dozentin für Genderforschung. In einem meiner Seminare erzählten vor ein paar Jahren erfahrene Sozialpädagoginnen, dass sie noch nie so stark mit Essstörungen zu tun hatten, wie heute und dass sich Mädchen gegenseitig extrem abwerten. Gleichzeitig erschien eine Studie die aufzeigte, dass Casting-Sendungen wie Topmodel das Körpergefühl Jugendlicher massiv beeinträchtigen. Zur selben Zeit war Hamburg komplett zu plakatiert mit Werbung für GNTM. Als ich in diesem Klima ankündigte, eine Kampagne gegen den Schönheitswahn lancieren zu wollen, wurde ich von Mitstreiterinnen überrannt. Das ist nun drei Jahre her. Pinkstinks ist mittlerweile eine der populärsten Frauenrechtsorganisationen Deutschlands.

Und Sie besitzen offensichtlich so viel Gewicht, dass im letzten Jahr die Werbefachpresse vor Ihrer einflussreichen Facebook-Community warnte.

Ja, mittlerweile können wir schnell ein Produkt vom Markt pushen. Letzten Sommer brachte Lidl zum Beispiel ein Bierfass heraus, auf dem eine halbnackte Frau abgebildet war mit dem Spruch: «Fass mich an». Nach einem unglaublichen Shitstorm, der von uns initiiert wurde, meldete sich Lidl bereits nach einer halben Stunden und nahm das Fass zurück. Mit solchen Aktionen wollen wir aufzeigen, dass Werbung dieser Art einfach nicht witzig ist, solange es derart viele Fälle häuslicher Gewalt gibt. Generell versuchen wir dabei, nicht mit dem moralischen Zeigefinger daher zu kommen, sondern mit Humor und Freude – was bei dem Thema aber nicht immer einfach ist.

14 Bundestagsabgeordnete als Testimonials gegen Sexismus in der Werbung

Wie finanzieren Sie sich?

Durch Spenden und der Bewegungsstiftung, die uns als Erste unterstützt hat. Mittlerweile haben wir ein Büro und zwei fest angestellte Mitarbeiterinnen. Aber wir müssten dringend wachsen, um unseren unterschiedlichen Arbeitsfeldern gerecht zu werden: Der Theaterarbeit, den Protestaktionen im Internet und der Lobbyarbeit. Letztere machen wir gegen Sexismus in der Werbung. Dafür konnten wir bereits 14 Bundestagsabgeordnete als Testimonials gewinnen. Um Lobbygespräche weiter anzukurbeln bräuchten wir aber mehr Mitarbeiterinnen. Es wäre zu schade, wenn wir all das, was wir bereits angestossen haben, nicht zu Ende bringen könnten.

Und das grösste Ziel von Pinkstinks ist es, irgendwann überflüssig zu sein?

Genau. Wenn es irgendwann keine sexualisierte Gewalt mehr gibt, keine Essstörungen, wenn sich die Gehaltsschere zwischen Männer und Frauen geschlossen hat und wenn nicht mehr der Grossteil der Harz4-Empfänger weiblich ist – dann braucht es uns nicht mehr.

Zur Person:

*Stevie Meriel Schmiedel ist promovierte Dozentin für Genderforschung und lehrte zuletzt an der Universität Hamburg und der Hochschule für Soziale Arbeit. Sie hat zwei Töchter und ist 1. Vorstandsvorsitzende, Geschäftsführerin und Pressesprecherin bei Pinkstinks. Aus der einstigen Kampagne entwickelte sich in den letzten Jahren eine der populärsten Frauenrechtsorganisationen Deutschlands. Pinkstinks richtet sich gegen Produkte, Werbeinhalte und Marketingstrategien, die Mädchen eine limitierende Geschlechterrolle zuweisen. Diese «Pinkifizierung» treffe Mädchen und Jungen gleichermassen, so die Aktivistinnen – ein Trend, dem sie entgegenwirken wollen: «Wir werben für ein kritisches Medienbewusstsein, Selbstachtung, ein positives Körperbild und alternative weibliche Rollenbilder für Kinder.»

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