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«Texte auf dem Handy und im Web sollten unterschiedlich aufbereitet sein.»

17.03.19

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Weshalb ist die Auflösung moderner Tablets gedruckten Texten ebenbürtig? Und warum sind Studien über Lesen am Bildschirm nicht ernst zu nehmen? Typografie-Experte Ralf Turtschi* über die Voraussetzungen für gute Leserlichkeit in Web und Print.


Redaktion/Interview: Textagentur etextera

Herr Turtschi, über sechs Stunden starren wir im Schnitt täglich auf Bildschirme, lesen E-Mails, Office-Dokumente, Kurznachrichten – die Arbeitszeit noch nicht einmal mit eingerechnet. Wäre es von der Leserlichkeit der Texte her bequemer, rein auf Printprodukte zu setzen?
Nein, das spielt keine Rolle. Das Auge-Hirn-System liest und erkennt prinzipiell gleich auf dem Screen oder Print.

Studien zeigen jedoch, dass sich Gedrucktes 20 bis 30 Prozent schneller liest und vom Leser auch besser behalten wird.
Ich halte viele Studien, die es zu diesem Thema gibt, für akademischen Nonsens. Leserlichkeit ist ein komplexes Thema. Man kann ihm mit wissenschaftlichen Methoden, die nur Teilbereiche messen, nicht gerecht werden.

Die Schrift spielt nicht so eine grosse Rolle

Das müssen Sie genauer erklären.
Meist wird in solchen Studien gefragt: Welche Schrift kann man schneller lesen? Worauf 2000 Probanden ein Text in Times oder Verdana vorgelegt wird. Die Crux daran: Nur allein mit Hilfe des Schrifttypes lässt sich überhaupt nichts aussagen. Nehmen wir zum Beispiel zwei völlig unterschiedliche Schriften wie Bodoni und Futura. Selbst bei diesen bewegt sich der Unterschied der Lesegeschwindigkeit im Bereich von einem bis vier Prozent. Was bedeutet: Die Schrift spielt gar nicht so eine grosse Rolle. Anders gesagt: Lesen Sie einen Artikel in einem Magazin und auf dem Bildschirm, schaffen Sie in derselben Zeit im Magazin vielleicht zwei Zeilen mehr. Das ist vernachlässigbar.

Was ist nun ausschlaggebend dafür, wie gut sich ein Text lesen lässt?
Es gibt im Screen und Print bezüglich Leserlichkeit und Typografie gute und schlechte Beispiele. Beide Medien haben spezifische Vor- und Nachteile, eine generelle Aussage ist unsinnig. Das Problem aber ist: Web und Print wird in den von Ihnen erwähnten Studien gegeneinander ausgespielt. Doch die Vergleiche bilden die Komplexität nicht ab. Einzelne Aspekte wie die Schrift zu vergleichen, ohne etwa Zeilenabstände und jeweilige Technologie zu berücksichtigen, funktioniert nicht. Deshalb sind besagte Studien in der täglichen Praxis nicht zu gebrauchen.

Je nach Situation liest sich Gedrucktes oder Elektronisches besser

Was sind dann die Kriterien für die Leserlichkeit eines Textes?
Die Motivation des Lesers spielt mit rein – ist er etwa persönlich betroffen und deshalb motiviert, selbst den kleingedruckten Beipackzettel zu lesen? Aber auch Syntax und Satzbau – sind diese verschachtelt oder einfach? Dann natürlich die Formatierung der Schrift, die Typografie, aber auch das Drucksubstrat und der Bildschirm. Die unterschiedliche Technologie gibt zum Beispiel Papier im Sonnenlicht Vorteile, während das Tablet im schummrigen Licht geeigneter ist. Anstatt Print und Web miteinander zu vergleichen, sollte man lieber mal untersuchen, inwiefern die Schriftgestaltung damit zu tun hat, dass sich jemand von einem Text abwendet. Schauen Sie zum Beispiel Fachzeitschriften an – viele davon werden in zu kleiner Schrift gedruckt und die lässt keine Leselust aufkommen.

Was Schriftgrösse und Zeilenabstand angehen, punktet dafür der Bildschirm: So lassen sich diese auf E-Readern individuell einstellen.
Ja, das ist in der Tat ein ungeheurer Vorteil von E-Books. Für alte Leute ist dies ideal: Sie kaufen sich einen Kindle, stellen die Schriftgrösse 16 Punkt ein und können lesen – während sie in Taschenbüchern oft längst nichts mehr erkennen.

Lesen ist eine Frage der Gewöhnung

Wann wird hingegen das Lesen auf dem Bildschirm schwierig?
Auf dem Handy finden Sie heute die gleichen Texte wie im Web. Dabei müssten diese eigentlich unterschiedlich aufbereitet werden. Denn auf dem Handy navigieren Sie anders – Blättern, Scrollen, Swipen. Es ist dort mehr ein sprunghaftes Lesen, somit sind auch die Anforderung an Schrift und Typografie anders. Ausserdem gibt es verschiedene Browser und unterschiedliche Bildschirmauflösungen, was es ebenfalls schwierig macht, ein und denselben Text auf sämtlichen Endgeräten gleich gut leserlich darzustellen. Weiter sind verschiedene Handygrössen im Umlauf – was bedeutet, dass auf dem iPhone 6 ein Text ganz anders dargestellt wird als auf einem iPhone 8 oder Samsung Galaxy. Nicht zuletzt ist auch die Technologie zuständig, welche Schriften bildschirmoptimiert darstellt oder eben nicht, je nachdem welche Schriften verwendet werden. Unter Umständen ist ein HTML-Text unleserlich, während auf demgleichen Screen ein PDF-Text scharf abgebildet wird.

Kinder sind heute schon früh an Displays gewöhnt. Werden sie es in Sachen Leserlichkeit am Bildschirm einmal noch einfacher haben?
Das kann ich nicht sagen, das wäre spekulativ. Grundsätzlich gilt aber: Beim Lesen sind wir alle auf Wortbilder konditioniert. Dabei sind wir bestimmte Schrifttypen gewohnt, die wir gut lesen können. Im 19. Jahrhundert dominierte im deutschsprachigen Raum zum Beispiel die Frakturschrift – die für uns heute nur noch mühsam lesbar ist. Genauso schwierig wäre es für die Leute jedoch damals gewesen, unsere heutige Schrift zu entziffern. Das Lesen ist somit eine Frage der Gewöhnung. Wir können heute Schriften mit und ohne Serifen gleich gut lesen. Dabei ist es völlig egal, ob Kinder mit iPad oder Buch aufwachsen: Sie lesen mit der gleichen Codierung. Was die Leserlichkeit auf Bildschirm und Papier angeht, gibt es keinen Unterschied, sofern die Auflösung des Screens genügend hoch ist, so wie dies bei modernen Tablets der Fall ist. Viel eher beeinträchtigen ungeeignetes Papier, farbiger Hintergrund, ausgegraute Schrift oder spiegelnde Bildschirme die Leserlichkeit. Man braucht somit keine Bedenken haben, wenn Kinder auf dem iPad lesen.

 Zur Person:
*Ralf Turtschi ist Gestalter, Publizist undInhaber von Agenturtschi, einer Agentur für visuelle Kommunikation. Er verfügt über breite Erfahrung in Bereichen des Grafikdesigns, Editorial Designs und der Typografie. Als Buchautor, Fachjournalist und Kommunikationsberater hat er vier Fachbücher veröffentlicht, sowie einige Broschüren und unzählige Fachartikel zu verschiedenen Themen. In diesen Tagen kommt seine neue Broschüre «Leserlichkeit» heraus.


Bild: pixelio.de/Helene Souza

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