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«In 20 Jahren haben wir alle unseren persönlichen Shopping-Assistenten»

26.06.14

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Online-Shopping in der Schweiz boomt – und fordert den Detailhandel heraus. Müssen Kunden ein schlechtes Gewissen haben, weil sie dem klassischen stationären Handel schaden wenn sie zunehmend im Internet bestellen? Nein, sagt Malte Polzin* von der Zürcher E-Commerce Beratung Carpathia und blickt in die Zukunft.


Redaktion/Interview: Text- und Übersetzungsagentur etextera

Herr Polzin, während der gesamte Detailhandel 2013 nur um 0,3 Prozent zulegte, stieg der Umsatz mit Bestellungen, die Privatpersonen via Internet aufgaben, um 14 Prozent auf 5,35 Mrd. Franken. Wieviel Prozent Ihrer Einkäufe tätigen Sie im Internet?

Das sind mittlerweile bestimmt über 50 Prozent. Kürzlich habe ich nun angefangen, auch Lebensmittel online zu bestellen. Rechne ich dies mit ein, komme ich sogar auf mehr.

Gibt es etwas, das Sie nicht im Internet kaufen würden?

Persönlich bin ich kein Fan von Kleiderbestellungen im Netz. Aber das hat wohl eher etwas mit individuellen Einkaufsgewohnheiten zu tun. Grundsätzlich habe ich wenig Berührungsängste; auch Möbel habe ich bereits im Internet bestellt, das geht wunderbar. Einige Händler schicken einem mittlerweile sogar Stoffproben vorab zur Ansicht, denn gerade bei hochpreisigen Möbeln will man ja wissen, auf was man sich einlässt. Generell informiere ich mich heute zuerst online, wenn ich etwas benötige. Dann weiss ich genau, was ich im Laden anschauen will oder ob ein bestimmtes Produkt in einer Filiale vorrätig ist. Auf gut Glück irgendwo hinfahren reduziert sich somit. Das ist ein Paralleleffekt des Online-Shoppings: Man kauf viel effizienter. Das Einkaufverhalten hat sich somit ziemlich verändert.

Die Entwicklung gibt es aber auch anders herum: Ich informiere mich im Laden und kaufe dann per Mausklick.

Ja, das gibt es beides. Allerdings wird Letzteres vom Detailhandel leider häufig überbewertet. In der Realität kommen vor allem im technischen Umfeld die Leute sehr gut informiert in den Laden: Wer einen neuen Fernseher kaufen möchte, hat heute oft mehr Features im Kopf als der Verkäufer. Aufgrund einer schlechten Beratung kommt es dann aber häufig nicht zum Kauf.

Der Detailhandel ist gefordert, neue Konzepte zu finden

Muss ich mich gegenüber dem Detailhandel schuldig fühlen, wenn ich Bücher, Möbel oder elektronische Geräte im Internet bestelle anstatt sie im Laden zu kaufen – weil ich so eine Mitschuld am Tod des Einzelhandels habe?

Ich glaube, es hat sich keiner damals schuldig gefühlt, als das Fernsehen aufkam und die Leute mehr TV schauten als Radio hörten. Oder als sie begannen, häufiger bei iTunes einzukaufen anstatt CDs im Laden. Es geht hier auch nicht um Schuld, sondern um die Frage, wie der Detailhandel mit dem Strukturwandel umgeht. Verkaufskanäle ändern sich nun mal von Zeit zu Zeit. Das war schon immer so. Der Detailhandel ist deshalb gefordert, neue Konzepte zu finden. Dies gilt vor allem für kleinere Läden, denn die Grossen sind meist sowieso schon online. Die kleineren aber müssen sich neu erfinden, den Kunden einen Grund geben, dass diese stationär kaufen. Hier aber sehe ich momentan eine grosse Einfallslosigkeit: Verkaufspersonal ist leider oft schlecht bezahlt und schlecht ausgebildet, Ladenflächen sind unattraktiv gestaltet.

Was raten Sie konkret einem kleinen Laden? Wie kann ein Detailhändler den digitalen Wandel in sein Geschäftsmodell integrieren?

Auf die persönliche Betreuung setzen, auf die Begegnung vor Ort. Und vor allem: Mehr Service bieten. Heute ist es doch so: Ich gehe in einen kleinen Laden, fühle mich dort sehr gut beraten und möchte drei Produkte kaufen. Davon sind aber nur zwei vorrätig, beim dritten heisst es: „Haben wir nicht“. Das ist selbstgemachte Ohnmacht! Der Servicegedanke fehlt mir hier! Ist der Händler ein wenig pfiffig, geht er schnell online und bestellt das fehlende Produkt – auch wenn er kein Online-Shop ist. Sonst gehe ich als Kunde nach Hause und mache es selbst.

Muss in Zukunft jeder Detailhändler auch einen Online-Shop haben?

Um Gottes Willen, nein! Aber als stationärer Handel sollte ich online sein. D.h. als Minimum eine Website haben, so dass Kunden via Mobiltelefon sehen können, wie die Öffnungszeiten sind. Ausserdem bei Google Maps vertreten sein, in lokalen Bewertungsforen drin stehen, sich mit Sozialen Medien auseinander setzen und dort einen Dialog führen. Hilfreich ist auch, zukünftig für eine lokale Anzeige der Produkte bei Google-Shopping sein Sortiment hoch zu laden, so dass die Kunden sehen, was für Produkte in welcher Stückzahl man anbietet. Hier gibt es enorme Chancen, neue Zielgruppen zu erreichen und neue Formen des Dialoges mit dem Kunden zu führen. Dafür sind keine riesen Investitionen nötig, man muss lediglich offen sein. Doch bisher gibt es hier noch viel Unvermögen und viele Ängste.

Auf Serviceleistungen, bewusstem Abgrenzen und emotionale Ansprache kommt es an

Wie können Schweizer Online-Shops gegen Konkurrenz aus dem Ausland bestehen – Stichwort Amazon oder Zalando?

Mit Serviceleistung und bewusstem Abgrenzen gegenüber den Grossen. Gelingt es mir, Produkte im Sortiment zu haben, die es nicht bei Grossanbietern gibt, kann ich mich darüber differenzieren. Auch mit Zusatzleistungen lässt sich punkten: Kunden etwa ihre Bestellungen bereits am nächsten Tag zustellen – was bei Zalando zwei bis drei Tage dauert. Ein gutes Beispiel ist hierfür der Online-Shop von PKZ. Nicht umsonst hat das Unternehmen den Swiss E-Commerce-Award 2014 erhalten. Dort kann man sich zum Beispiel im Online-Shop ausgewählte Kleidungsstücke in einer PKZ-Filiale seiner Wahl reservieren lassen und dort anprobieren. PKZ setzt auch auf eine emotionale Kundenansprache: Ein Paket von dort kommt viel schöner verpackt bei mir an als eines von Zalando.

Unter Konsumenten werden Abholstationen in Grenznähe immer beliebter – also Adressen, an die man sich auf ausländischen Websites bestellte Ware schicken lässt. So genannte Cross-Border-Einkäufe machten 2013 in der Schweiz bereits 200 Mio. Fr. aus und nehmen im Vergleich zum gesamten Online-Markt überproportional zu.

Und das wird noch mehr zunehmen. Zwar haben sich viele deutsche Online-Shops bereits auf Schweizer Kundschaft eingestellt und weisen etwa auf ihren Webseiten darauf hin, dass sie die Verzollung und Rückererstattung der Mehrwertsteuer übernehmen. Aber es wird weiterhin viele kleinere Online-Anbieter geben, die eine Verzollung und Lieferung in die Schweiz nicht von sich aus anbieten wollen oder können.

Was ist Ihre Prognose: Wie werden wir in 20 Jahren einkaufen – nur noch per Mausklick?

Das glaube ich nicht. Im IT-Bereich wird heute 23 Prozent online erstanden, Lebensmittel hingegen werden nur zu einem Prozent im Netz gekauft. Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass Letzteres irgendwann bei 25 Prozent liegen wird. Was Trends angeht: Amazon hat gerade ein neues Smartphone vorgestellt: Dort kann ich ein Foto von einem Produkt einstellen, dann schauen, ob Amazon es im Angebot hat, zu welchem Preis, es reservieren lassen, usw. Solche Anwendungen werden in 20 Jahren nicht mehr wegzudenken sein. Ausserdem werden wir alle unseren persönlichen Shopping-Assistenten haben, der mit uns spricht. Ähnlich wie heute schon Siri auf dem iPhone. Zu diesem werden wir etwa sagen: «Brauche Milch». Worauf uns der Assistent fragt: «Vollfett oder halbfett?», «Zu Hause angeliefert oder morgen auf dem Rückweg von der Arbeit abholen?» Insgesamt werden wir sehr viel Assistenzunterstüztung haben, unser Smartphone nutzen – falls es das dann noch gibt – oder vielleicht auch ein Knopf im Ohr haben. Ausserdem werden wir auch das ein oder andere Produkt zu Hause ausdrucken können.

Ausdrucken?

Ja, mit einem 3D-Drucker. Ich glaube, da wird noch einiges kommen. 20 Jahre ist ja auch eine ganze Menge Zeit – bis dahin wird sich viel tun.


Zur Person:

*Malte Polzin ist Senior Consultant und Partner der Zürcher E-Commerce Beratung Carpathia. Der Betriebswirt referiert ausserdem an zahlreichen Veranstaltungen in der Schweiz und in Deutschland zu den Themen E-Commerce, Social Commerce und Social Media und ist Dozent für diese Themen an verschiedenen Bildungseinrichtungen in der Schweiz.

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