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«Erkennen Senioren den Nutzen, lassen sie sich fürs Internet begeistern»

25.06.15

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Eine aktuelle Studie von Pro Senectute zeigt, wie die ältere Generation in der Schweiz das Internet nutzt. Sabina Misoch*, Leiterin des Interdisziplinären Kompetenzzentrums Alter an der FHS St. Gallen, über die Scheu vor der Technik, Flirtchats für Senioren und weshalb Altersheime in Zukunft unbedingt aufs Internet setzen müssen.


Redaktion/Interview: Text- und Übersetzungsagentur etextera

Frau Misoch, hat die ältere Generation den Anschluss an die digitale Zeit verpasst?

Nein, diese ist zwar analog sozialisiert und musste sich zunächst in die Verwendung neuer Medien einarbeiten. Aber Internetnutzer ab 65 verzeichnen eine deutliche Zuwachsrate, wie eine aktuelle Studie von Pro Senectute zeigt. Grundsätzlich gibt es bei Innovationen immer so genannte Early Adopters, die sofort Innovationen annehmen, sowie Late Adopters, die erst später nach ziehen. Ältere Internetnutzer sind dabei klassische Late Adopters. Im Gegensatz zur Jugend, die neue Technologien und Medien experimentierfreudig nutzt, müssen sie jeweils einen klaren Nutzen erkennen können – dann sind auch Senioren bereit, eine neue Technik bzw. ein neues Medium zu nutzen. Und dies ist im Falle des Internets geschehen.

Die Studie zeigt aber auch: Senioren sind ein sehr heterogenes Kundensegment. Für diejenigen, die keinen Internet-Zugang haben, wird der Zugriff auf Information durch Ämter oder im Präventionsbereich immer schwieriger.

Das ist richtig. Allerdings muss man sehen: Der Anteil der Online-Senioren hat seit 2010 um die Hälfte zugenommen; ein Drittel verfügt über Tablets oder Smartphones. Insgesamt haben 91 von 100 Schweizer Haushalten Zugang zum Internet. Damit liegt unser Land mit an der Weltspitze bei der Internetnutzung. Online-Senioren sind sich bewusst: Mit dem Internet habe ich die Chance, das Alter positiv zu gestalten. Sie fühlen sich sozial integrierter als die so genannten Offliner und glauben, dass sie mit Hilfe des Internets länger selbstständig bleiben. Von den Offlinern befinden sich derzeit ca. 25 Prozent in einer Übergangsphase und sind im Begriff, auch Onliner zu werden – weil sie ebenfalls den erwähnten Nutzen sehen. Generell sprechen wir sowohl vom dritten Lebensalter – welches Senioren im Alter von 60/65+ umfasst, die meist noch sehr fit sind – als auch vom vierten Lebensalter, ab 80, in dem gesundheitliche Beeinträchtigungen und physische Hemmnisse zunehmen. Die Studie zeigt, dass im dritten Lebensalter 65 Prozent der Senioren online sind, im vierten Lebensalter hingegen nur 25 Prozent.

Informationen sind gefragt, aber keine Unterhaltung

Wie nutzen Senioren die neuen Medien – im Gegensatz zu jüngeren Usern?

Da gibt es grosse Unterschiede. Für die junge Generation ist das Online-Sein vor allem ein soziales Bedürfnis. Es dient der Kommunikation und dem Identitätsfindungsprozess, im Netz können sie sich austauschen und spiegeln. Die ältere Generation hingegen sucht vor allem Informationen – Fahrpläne, Infos aus dem Gesundheitsbereich, Online-Zeitungen. Unterhaltung erwarten Senioren vom Internet überhaupt nicht, hier ist für sie das Fernsehen immer noch Medium Nummer eins – was sich bei der Jugend anders verhält.

Wie sieht es mit der Kommunikation aus?

Während die jüngere Generation vorwiegend über soziale Netzwerke kommuniziert, wie etwa Facebook, setzen Senioren auf E-Mail. Dies entspricht ihrem Bedürfnis nach 1:1-Kommunikation, so wie früher beim klassischen Briefeschreiben. Deshalb kommen bisher auch Seniorennetzwerke nicht gut an, denn die gleichzeitige Kommunikation mit Vielen überfordert diese Zielgruppe eher. Künftige Generationen von Senioren, die soziale Netzwerke und deren Kommunikationsstrukturen gewohnt sind, werden sich hier vermutlich einmal ganz anders verhalten. Insgesamt hat die Nutzungsdauer von Senioren im Internet aber zugenommen: Belief sich diese bisher auf rund eine halben Stunde pro Tag, sind ältere Menschen jetzt länger online – und dies über den ganzen Tag verteilt. Das Internet wird zunehmend Bestandteil ihrer Alltagsstruktur und so zu einer kulturellen Selbstverständlichkeit.

Womit haben Senioren besonders Mühe?

Weil sie sich selbst wenig zutrauen im Umgang mit neuen Medien, haben sie oft Angst vor Sicherheitsrisiken und vor technischen Problemen – was meist völlig unbegründet ist. Beschäftigen sich Senioren hingegen mit dem Thema, ist oft ihre erste Erkenntnis: «So schwierig ist das ja gar nicht!» – was es auch definitiv nicht ist, mit den bedienungsfreundlichen grafischen Oberflächen und den Möglichkeiten, etwa Schriften zu vergrössern. Die oft anfängliche Scheu hat deshalb mehr mit ihrer Mediensozialisation zu tun als mit realen Schwellen, die medienbedingt sind.

Permanente Reizüberflutung

Durch das Internet prasseln die Informationen in einem viel höheren Rhythmus auf uns ein als früher. Das kann ebenfalls Angst machen, oder?

Ja, definitiv. Diese permanente Reizüberflutung heute ist für viele schon im analogen Leben kaum auszuhalten. Deshalb ist ja auch E-Mail bei Senioren so beliebt – weil sie in ihrem Tempo antworten können. Andererseits zeigt eine Bitcom-Studie aus Deutschland: Flirtchats für Senioren nehmen zu. Das finde ich spannend. Schliesslich verlieren gerade Frauen mit ihrer höheren Lebenserwartung im Alter oft ihren Partner. Bietet da das Internet die Möglichkeit, einen neuen Partner zu finden, und die Zielgruppe zeigt sich bereit, diesen Weg der Suche zu nutzen, ist das eine grosse Chance.

Sollten Offline-Senioren also einen Internetkurs besuchen?

Wenn das Interesse besteht – warum nicht? Senioren nehmen Internetnutzung verstärkt als zentrales Inklusionsmoment wahr. In der Gruppe machen sie dabei die wichtige Erfahrung: «Ich bin nicht alleine mit dem Problem» und lernen von Profis, welche Gefahren es tatsächlich im Netz gibt. Gleichzeitig sind aber auch die Hersteller gefragt – um beispielsweise Endgeräte zu entwickeln, die bis ins hohe Alter benutzerfreundlich sind. Hier hat die technische Entwicklung sicher noch Potenzial. Schliesslich wird im Jahre 2050 ein Drittel der Bevölkerung 65 Jahre und älter sein. Auch das Thema Technikakzeptanz wird damit künftig noch mehr ins Zentrum rücken.

Dank Internet so lange wie möglich in der eigenen Wohnung leben

Wie meinen Sie das?

In Zukunft werden wir immer weniger Pflegekräfte für die stetig wachsende alternde Bevölkerung haben. Technische und mediale Unterstützungen sowie Assistenzsysteme werden also eine noch grössere Rolle spielen. Nebst Medien- und Technologieinnovationen ist es aus diesem Grund besonders wichtig, dass die Technik akzeptiert wird und den Bedürfnissen der Zielgruppe entspricht. Immerhin ist es der Wunsch aller, möglichst lange selbstständig in der eigenen Wohnung zu leben. Deshalb bekommt die Internetnutzung in Zukunft eine noch viel grössere Bedeutung für die ältere Generation. Gefragt sind unter anderem Systeme, mit denen ich etwa die Pflegekraft herbei rufen kann, Mittagessen bestellen oder jemanden organisieren kann, der mir etwa die Blumen giesst. Wo ich meine medizinischen Daten einlesen kann, die der Telemediziner dann gleich mit mir bespricht. Also Systeme, die informelle und formelle Unterstützung bieten. Dies ist ein Projekt, an dem wir unter anderem gerade arbeiten – in enger Zusammenarbeit mit den tatsächlichen Endusern, versteht sich. Denn es geht vor allem darum, deren Bedürfnisse aufzuspüren und dann technologisch umzusetzen.

Es ist also nur eine Frage der Zeit, bis Altersheime flächendeckend über WLAN-Anschlüsse verfügen?

Auf jeden Fall! Spätestens wenn die Digital Natives dort einziehen, wird es wohl soweit sein. Aber Altersheime müssen sich ohnehin darauf einstellen, ihr Angebot in Zukunft zu individualisieren. Da ist die Onlinenutzung nur ein Punkt unter vielen.

Werden wir in fünf bis zehn Jahren über das Thema gar nicht mehr sprechen müssen – weil angesichts der nachwachsenden internetaffinen Generation ohnehin alle Senioren online sind?

Bis in 25 Jahren hat sich das sicher angeglichen. Zwar nicht im vierten Lebensalter, da sind die gesundheitlichen und kognitiven Beeinträchtigungen meist zu gross, aber im dritten Lebensalter auf jeden Fall. (kri)

Zur Person

*Dr. Sabina Misoch leitet das Interdisziplinäre Kompetenzzentrum Alter an der FHS St. Gallen. Sie ist Soziologin und Expertin für empirische Forschungsmethoden, Technikakzeptanz, Einstellungsforschung und Neue Medien. Das Interdisziplinäre Kompetenzzentrum Alter IKOA-FHS befasst sich mit wissenschaftlicher Grundlagenforschung und anwendungsorientierter Forschung sowie Entwicklung rund um Fragen des Alters und Alterns. Es bietet mit seinen Forschungsaktivitäten relevantes Entscheidungswissen für Institutionen und Politik und darüber hinaus Beratung, Weiterbildung, Vorträge und Workshops zu den Themen Alter und Altern an.

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