Themen Im Fokus
Wissen

«In Zukunft wird es sehr viel weniger Analphabeten geben»

02.01.15


Welchen Einfluss haben WhatsApp-Chats auf unsere Sprache und Interaktionen? Das Forschungsprojekt «What’s up, Switzerland?» hat dies für die Schweiz untersucht. Simone Ueberwasser*, Linguistin an der Universität Zürich, über Höflichkeit, Emojis und weshalb sie nicht an den Verfall der Sprache glaubt.


Redaktion/Interview: Text- und Übersetzungsagentur etextera

Frau Ueberwasser, wann haben Sie Ihre letzte WhatsApp-Nachricht verschickt?

Vor einer Woche vielleicht – allerdings schreibe ich nicht viele. Ich bin 50, habe zwar immer das neueste Smartphone, aber in meinem Umfeld verschickt kaum jemand WhatsApp-Nachrichten. Deshalb kommuniziere auch ich eher per E-Mail.

Sie sind Teil eines Teams von Linguisten, das WhatsApp-Nachrichten gesammelt hat. Es ist das erste grosse Forschungsprojekt dieser Art. In der Schweiz ist die Datensammlung bereits abgeschlossen, in Deutschland ist sie noch in vollem Gange. Was hat Sie am meisten überrascht?

Nach einer ersten Sichtung der Daten waren wir sehr erstaunt über die Kürze der Nachrichten. Bei einer SMS-Studie, die wir ein paar Jahre zuvor gemacht haben, schrieben die Leute im Schnitt 115 Zeichen pro Nachricht. Das hatten wir damals erwartet, da bei SMS nur 160 Zeichen zugelassen sind. Erstaunlicherweise liegt der Durchschnitt bei WhatsApp-Nachrichten aber bei 30 Zeichen – obwohl es dort keine Beschränkung gibt.

Woran liegt dies?

Per SMS wurden Texte geschrieben wie: «Hallo, willst du mit mir morgen Essen gehen?» – «Nein, ich kann leider nicht, aber wie wäre es Übermorgen?». WhatsApp-Nachrichten hingegen haben eher den Charakter einer mündlichen Kommunikation. Etwa: «Kommst du mit?» – «Nein» – «Warum?» – «Keine Zeit. Übermorgen?». Ein Fünftel der untersuchten Mitteilungen enthalten jeweils nur ein Wort. Dies aber in sehr rascher Abfolge. Um eine SMS zu schreiben, setzte man sich früher hin, nahm sich kurz Zeit. WhatsApp-Nachrichten hingegen sind omnipräsent und werden schon mal schnell beim Strasse überqueren verfasst. Es ist also eher ein kontinuierliches Gespräch, das sich fortsetzt. Ausserdem werden reale und virtuelle Welt gerne vermischt.

«er esch so toll»

Wie meinen Sie das?

Dialoge aus der Realität werden nahtlos virtuell fortgesetzt, ohne grosse Einleitung. Oft gibt es dabei eine Message, die nicht Teil eines laufenden Gesprächs ist – etwa wenn die letzte Kommunikation zwei Wochen zurück liegt, das neue Gespräch per WhatsApp aber zum Beispiel mit «Wooow!» anfängt. In diesem Fall wird auf etwas Bezug genommen, was die User gerade in der reellen Welt zusammen gesehen oder erlebt haben.

Wird eher auf Mundart oder Hochdeutsch geschrieben?

Vier Fünftel aller deutschen SMS in der ersten Sammlung sind auf Mundart abgefasst. Bei den Chats wird das kaum anders sein. Die am häufigsten verwendete Phrase ist dabei: «er esch so toll», gefolgt von «nicht in die schule» und «wann kommst du heim». Insgesamt bekamen wir rund 800‘000 einzelne Sprechblasen aus 600 Chats zugeschickt. Die stärkste Gruppe ist dabei die der 18- bis 24-Jährigen. Aber auch 64-Jährige sind darunter. Der Anteil an Männern und Frauen ist dabei recht ausgeglichen – während es bei der SMS-Studie damals deutlich mehr Frauen waren.

Es wird erstaunlich korrekt geschrieben – vor allem in der Westschweiz

Und welchen Einfluss hat die WhatsApp-Kommunikation auf unser Alltags-Vokabular?

Manche Abkürzungen sind mittlerweile in den Sprachgebrauch übergegangen – wie LOL für «laughing out loud». Gleichzeitig stellen wir fest, dass grammatisch erstaunlich korrekt geschrieben wird. Vor allem in den französischen Chats aus der Westschweiz ist das sichtbar. Die Leute wollen ausserdem kreativ sein, arbeiten Ausdrücke in anderen Sprachen ein – die Sprachaktivität ist also sehr hoch.

Mit der Höflichkeit allerdings ist es nicht weit her – Anreden oder Grussformeln werden kaum verwendet.

Das ist doch in E-Mails ähnlich. Am Morgen schreibt man noch: «Liebe Frau Professor». In der zweiten oder dritten Mail des Tages an dieselbe Person verliert sich dies dann meist. Hat man zwei Tage nichts voneinander gehört, ist die Anrede hingegen wieder da. Ähnlich verhält es sich mit der Schlussformel. Diese Verkürzung sehe ich nicht als Unhöflichkeit, sondern eher als Ausdruck von Dialogizität. Ausserdem gibt es ja noch Emojis, die dafür sorgen, dass der Empfänger den verkürzten Kontext richtig versteht.

Können Sie dafür ein Beispiel geben?

Chatten zwei Jugendliche miteinander, kann das für uns sehr unhöflich klingen: «Hey Alter!», «Hey Fetter!», aber das ist so eine Art gruppeninterne Höflichkeitsfloskel. Indem sie Emojis hinzufügen, beugen User Missverständnissen vor. Generell kann man mit Emojis sehr viel Ironie ausdrücken.

Diese werden dabei als Kommentare oder Ersatz für Gestik und Intonation verwendet. Sie dienen also eher selten dazu, Wörter durch Bilder zu ersetzen.

Pressetexte, die den sprachlichen Verfall diagnostizieren, stimmen nicht

Haben Sie als Linguistin keine Angst, dass die digitale Kommunikation mit ihren verkürzten Formulierungen unsere Sprache ruiniert?

Nein, das tut sie mit Sicherheit nicht. Aber digitale Kommunikation hat Einfluss auf unsere Schreibkompetenz – und zwar im positiven Sinne. Studien zeigen, dass die Leute sich sehr wohl bewusst sind, in welchem Umfeld sie sich bewegen und sich auch entsprechend verhalten. So wird eine Chat-Konversation anders formuliert als eine E-Mail an den Chef oder einen Aufsatz in der Schule. Im Internet kursieren zwar immer wieder Beispiele von Schüleraufsätzen, die vor Abkürzungen und Smileys nur so strotzen. Aber das sind meistens Fakes.

Und was passiert mit uns, wenn wir zunehmend digital kommunizieren?

Nichts. Die Leute, die sprachlich gut sind, bewegen sich kreativ in Chats. Diejenigen, die eher Probleme mit der Sprache haben, schreiben weniger. Was sich aber verändert: Menschen schreiben und kommunizieren viel mehr. Ich persönlich glaube, in Zukunft wird es sehr viel weniger funktionale Analphabeten geben. Manche aus meiner Generation, die mit 14 Jahren die Schule verliessen, haben danach kaum mehr geschrieben. Das gibt es heute nicht mehr. Alles ist sehr viel schriftlicher – und zwar auf einem guten Niveau. Sämtliche Pressetexte, die den sprachlichen Verfall diagnostizieren, stimmen nicht. Die Sprache ändert sich zwar, aber sie wird nicht schlechter. Im Gegenteil: Die Sprachreflexion nimmt zu. Auf die Frage «Wie schreibst du einen Aufsatz?» antworten Schüler heute sehr überlegt, wissen, wie sie formulieren müssen, um verstanden zu werden. Schüler meiner Generation hätten darauf wohl lediglich geantwortet: «Mit dem Bleistift.»


Zur Person:

*Simone Ueberwasser ist Linguistin an der Universität Zürich und koordiniert das Forschungsprojekt «What’s up, Switzerland?», das den Sprachgebrauch in allen Landessprachen in WhatsApp-Chats untersucht. Parallel zur Schweizer Erhebung läuft momentan eine Untersuchung in Deutschland.
PS: Warum selber machen, wenn es Profis gibt? etextera unterstützt Sie beim Texten, Gestalten und Umsetzen Ihrer Kommunikationsprojekte. Sprechen Sie mit uns.